Freitag, 24. Mai 2013

WASSERKRAFT, NEIN DANKE?

Aufgestaute Wut war das Thema des letzten Posts, aufgestautets Wasser ist das aktuelle. Oder genauer der Plan internationaler Aktionäre, das Flusswasser Longo Maïs zur Stromerzeugung zu nutzen. Klingt nach einem tollen Plan? Endlich saubere Energie für's Dorf? Der Reihe nach:

Die Nachricht erreichte mich Ende April nach einem spannenden wie erholsamen Kurzausflug zur Tropenstation La Gamba mit einigen Mitfreiwilligen, den ich nicht komplett unerwähnt lassen möchte.

(Wer primär am Bericht über die Wasserkraftwerke interessiert ist, springt bitte bis zum nächsten Absatz nach den Bildern.)

Untergebracht bei der Köchin der Station, die uns festlich bewirtete (u.a. mit dem ERSTEN leckeren Brot in Costa Rica, welches den Namen auch verdient hatte UND auch noch SELBST GEBACKEN war!), erkundeten wir riesige Felsformationen, von denen Wasserfälle in die Tiefe fielen. Erfrischende Badestellen luden zum Schwimmen und Abkühlen gegen die Hitze der Trockenzeit ein. Viele Steinhänge ließen sich prima erklettern, um einen attraktiven Blick auf beinahe durchsichtiges Wasser voller bunter Fische zu bieten. Auch eine Jesusechse stellte ihr wundersames Talent zur Schau. Dank Simons Zivildiener-Kameraden konnten wir außerdem die Tropenstation der Uni Wien und den "Regenwald der Österreicher" bei Tag und Nacht genauestens erkunden. Lanzenotter, Rotaugen-Laubfrosch und Kaimanjunge samt wütender Mutter ist nur eine Bestenliste dessen, was wir zu sehen bekamen.
















Nachdem ich nach Longo Maï zurückgekommen war, kam mir nun also zu Ohren, dass US-amerikanische Investoren im Tandem mit costaricanischen Unternehmern nahe der Quelle der Flüsse río Convento und Sonador jeweils ein Wasserkraftwerk bauen würde. An dieser Stelle sei gesagt, dass nicht etwa der Antrag bei den zuständigen Behörden an jenem Tag eingereicht wurde - nein! - es war der Tag, an dem die Öffentlichkeit, die Bewohner, die Betroffenen zum ersten Mal informiert wurden, was da in ihren Fluss gebaut werden soll; das Antragsverfahren lief bereits knapp EIN JAHR!!!


Dementsprechend war also Eile geboten. Auf die Bitte von Roland hin, fuhr ich nach Térraba auf ein Koordinationstreffen der Alianz Sur-Sur. Spannend war es nicht allein wegen der nervenaufreibenden Hinfahrt - geplatzter Busreifen inklusive. Neben einer Vielzahl langjähriger, kampferprobter Aktivistinnen und Aktivisten gegen Regierungs- bzw. Nicht-Regierungs Megaprojekte, lernte ich auch den Journalisten und Lateinamerikaexperten Torge Löding (s.u.a → hier) kennen.
Man nahm sich viel Zeit, uns typische Abläufe, effektive Präventivmaßnahmen, offenkundige Gefahrenwarnungen, hilfreiche Abwehr- sowie Kommunikationsstrategien und nützliche Quellen mit auf den Weg zu geben. Auf dem Rückweg hatten wir Unmengen an Informationen gesammelt sowie Kontakte geknüpft und außer einer Nasenbärenfamilie, die unsere Straße kreuzte, gab es dann auch keine weiteren Abenteuer mehr. In
Longo Maï hatte man derweil ad hoc eine Generalversammlung einberufen, in die wir unser neu gewonnenes Wissen gleich einbringen konnten. Die gesamte Dorfgemeinschaft diskutierte, stritt, debatierte, überlegte und argumentierte Stunden, Tage, Wochen. Schon nach dem ersten Treffen wurde ein Komitee zum Schutz der Flüsse gegründet und sich mit den betroffenen Nachbargemeinden vernetzt.

Warum der ganze Aufruhr? Das mag sich die eine oder der andere fragen. Um diese Frage möglichst kompakt näherungsweise zu beantworten, werde ich zunächst die Argumente der Befürworter, dann die Argumente der Gegner möglichst chronologisch angeglichen auflisten:

PRO Wasserkraftwerke:

  • ein WKW bringe "der Entwicklung der Dörfer, strukturelle Vorteile".
  • WK sei "grün" und "sauber".
  • Die Menschen bräuchten mehr Strom, den das WKW lieferte.
  • die WKWs Monteverde I und II seien kleiner als andere Projekte und zerstörten daher auch nicht die Umwelt.
  • Dem Fluss bliebe genügend Wasser erhalten, da es sich nicht um einen großen Stausee handele.
  • Der Bau der WKWs geschehe auf "legalem, demokratischem Wege unter Einbezug der Öffentlichkeit".
  • Beim Bau stünde der Umweltschutz an erster Stelle. Die Landparzellen kaufe man u.a. deshalb, um an der Quelle des Flusses, Regenwald unter Naturschutz zu stellen.
  • Auch das Trinkwasser der Menschen werde geschützt; den Bau eines Aquäduktes würde man befürworten.
CONTRA Wasserkraftwerke:
  •  "strukturelle Vorteile" sei ein alles- und nichtssagender Begriff. Kurzfristige Niedriglohn-Arbeitsverhältnisse seien keine "Entwicklung der Dörfer". Diese könne nur durch Nachhaltigkeit gesichert werden und nachhaltig wäre "der Schutz der Umwelt, in der wir leben", der Fluss ist einer der wichtigsten Teile davon.
  • Noch mehr Phrasen und eine Lüge. 1. Die Turbinen des Kraftwerks erzeugen Methan sowie CO². 2. Das permanente Aufwirbelnd des Wassers im sogenannten Schwellbetrieb verändert zahlreiche Umweltfaktoren und damit die Lebensverhältnisse der Tiere und Pflanzen, die so massiv bedroht werden. 3. Beim Wiedereinspeisen des Wassers entsteht eine sog. dead-zone, sprich ein Bereich, in dem durch die regelmäßig losgelassenen Wassermassen akute Lebensgefahr für Mensch und Tier besteht.  4. Es würden keine oder völlig unzureichende öko-, biologische, topo-, geographische Gutachten erstellt, um die Auswirkungen des Projektes auf die Umwelt genau zu überprüfen.
    5. Am Ende bleibe nichts vom Fluss übrig als einem Rinnsal, die Fische sowie andere Wasserbewohner sterben, viele endemische Arten, die in Lateinamerika zu Hause sind, verschwinden auf ewig.
  • Die Menschen brauchen nicht mehr Strom, Costa Ricas Energienetz ist bestens versorgt, 80% jener Energie kommt im Übrigen bereits heute aus erneuerbaren Energien. Der erzeugte Strom in den privaten Projekten ist beinahe vollständig für den Export gedacht. Die betroffenen Dörfer profitieren NICHT MIT EINEM KILOWATT oder CENT. Ferner produzieren WKWs wie Monteverde I und II hauptsächlich in der Regenzeit Strom, also dann, wenn ohnehin satt und genug Energie im Lande vorhanden ist.
  • Schon die Aussage ist widersprüchlich, denn sie räumt ein, dass große Projekte die Umwelt zerstören. Kleinere Projekte tun dies ergo genauso.
  •  Unter einer wahren demokratischen Herangehensweise verstehe man Aufklärung, Beteiligung und Befragung betroffener Bürgerinnen und Bürger, davon kann bisher nicht die Rede sein bei den Projekten, im Gegenteil.
  • Hinter dem Projekt steht ein Investor, dem nicht die Umwelt, sondern sein Geldbeutel am Herzen liegt. Anstelle von Umweltschutz werde eklatante Umweltzerstörung das Ergebnis sein. Die Landparzellen sind entscheidend für das Gelingen des Bauvorhabens. Kleinere Versprechungen oder Zusagen sollen das Gewissen beruhigen und ein gutes Licht auf den Konzern werfen.
Botschaft auf einem Felsen im río Convento: Nein zum Staudamm

Es ist ein rosiges Bild, das Konzerne wie Investoren von ihren Projekten zur "sauberen Energiegewinnung" im "grünen Costa Rica" malen. Mit der Realität hat das nichts zu tun. Und so ist der Kampf, den informierte Aktivisten gegen den Bau führen, anstrengend, schmutzig und nicht selten gefährlich, denn die Verantwortlichen bedienen sich permanent und völlig unverfroren folgender Mittel:

1. LÜGEN

...Lügen und noch mehr Lügen. Von Mexico - alleine in diesem Land waren 2011 bereits 512(!) WKW-Projekte geplant - in Zentralamerika bis an die unterste Spitze Argentiniens in Südamerika wird bei den mittlerweile unzähligen Megaprojekten versprochen und gelogen, dass sich die Balken biegen. Den Anwohnern wird schlicht das Blaue vom Himmel ausgemalt und im Nachhinein nichts davon gehalten. Das wohl dreisteste Beispiel ist das Versprechen, durch die WKWs mehr Strom zu günstigeren Preisen für die Menschen in den betroffenen Gemeinden zur Verfügung zu stellen. Vielerorts in Lateinamerika ist die Stromversorgung unbeständig, Ausfälle sind an der Tagesordnung. Hinzu kommt, dass ein massiver Anstieg der Energiepreise besonders den Menschen in ärmeren Regionen stark zusetzt. So sind sie empfänglich für die Hoffnungen, die ihnen gemacht werden, ihr Dorf werde vom Kraftwerk im eigenen Fluss profitieren. Spätestens bei Inbetriebnahme werden davon dann auch die letzten in Enttäuschung und Wut erstickt, denn wie es zahllose Beispiele in der Vergangenheit gezeigt haben, fließt kein einziger Kilowatt ins heimische Stromnetz, sondern auf direktem Wege zum Verkauf ins Ausland oder bestenfalls ein Teil ins Heimische Netzt, wo es das Monopol des staatlichen Energiekonzern ICE aushöhlt. Der dabei erzielte Profit geht selbstverständlich ebenfalls an den Hoffenden vorbei auf die Konten der Funktionäre und Unternehmer. Dabei bleiben die Energiepreise unverändert. In nicht wenigen Extremfällen hatten ganze Dörfer nach dem Bau eines WKWs gar überhaupt keinen Strom mehr.

2. WARHEIT AUFPOLIEREN


Hier besteht ein Unterschied zum Lügen, denn ein Funken Wahrheit steckt ja drin, wenn die Unternehmen wie in Longo Mai von "strukturellen Vorteilen" sprechen. In den meisten Fällen ist regelmäßig von der Schaffung vieler Arbeitsplätze die Rede. Dabei umgehen sie jedoch geschickt das Detail, dass es sich bei besagten Jobs um Beschäftigungen ausschließlich während des Baus handelt und, um dem ganzen die Krone aufzusetzen, selbst diese höchstens teilweise und dann fast nur die Niedriglohnjobs aus den betroffenen Dörfern besetzt werden. Ist das Projekt dann fertig, reichen meist schon eine handvoll Aufpasser bzw. Techniker - oft ebenfalls nicht aus der Region- , um das WKW in Betrieb zu halten und die Arbeitslosenrate bleibt gleichsam desaströs wie zuvor. Vielleicht fehlt es den Betroffenen bloß an Phantasie, wenn sie hier die angepriesene "Entwicklung" nicht sehen können?

3. TÄUSCHEN


Mit einer Selbstverständlichkeit und Dreistigkeit werden Zahlen, Material oder Fakten von Experten vorgelegt, die offensichtlich falsch sind, weil sie bspw. nur Teilaspekte beleuchten oder völlig veraltet sind. So legten der Unternehmer und sein Bruder in Longo Mai sowie der US-Aktienbündler Sathanael - wie ihn die Bewohner hinter seinem Rücken bereits spöttisch nennen - bei der ersten öffentlichen Präsentation ihres Projektes vor den Leuten, die an den Flüssen leben und die das Projekt betrifft, überzeugendes Kartenwerk vor. Auf diesem war erkennbar, dass der Bau niemanden unangenehm betreffen würde und auch umwelttechnisch keinerlei Probleme bestünden. Der gut gekleidete, kompetent wirkende Unternehmer, der diese Analysen den anwesenden Bauern darlegte, hatte lediglich ein klitzekleines Detail...


4. AUSBLENDEN

...vergessen zu erwähnen: Die Karten stammten allesamt aus dem Jahr 1960, in dem es Longo Mai und andere betroffene Dörfer noch gar nicht gab! Enttarnt von dem Mitbegründer der Flüchtlingskooperative Roland Spendlingwimmer, verkündete er ohne mit der Wimper zu zucken, jene Karten seien nun einmal "die offiziellen Materialien", die das costaricanische Amt für Umwelt verbindlich als Arbeitsgrundlage vorgebe; er selbst bedauere dies am meisten. Wie kann das sein, dass die Regierung tatsächlich solcherlei Vorgaben macht, die den Unternehmern so offensichtlich in die Hände spielen? An Korruption oder Erpressung darf ohne klare Beweislage gerade einmal still gedacht werden, ohne sich strafbar zu machen. Fakt ist, auch das bewusste Täuschen der Menschen gehört ebenso zum perfiden Repertpoire Nathanaels wie das

5. HEUCHELN

Von einem "Lebenstraum", der "mit Gottes Hilfe" gelingen soll wird da auf der Erstpräsentation gesprochen. Daher wird auch zu Anfang der Veranstaltung gebetet. Der große Widerstand in der Bevölkerung komme "völlig überraschend" und stoße auf "Unverständnis" sowie tiefe "Traurigkeit", sei doch das WKW als großartiges Projekt "für die Gemeinde und für die Umwelt" geplant gewesen.
Dass es sich um totale Heuchelei handelt, zeigt nicht nur die völlig absurde Kluft zwischen Selbstdarstellung und Handlungsrealität, sondern auch die simple Tatsache, dass selbst nach einem deutlichen, erhellenden Exkurs der Kraftwerk-Gegner über die desaströsen Auswirkungen eines sogenannten Schwellbetriebes, der Plan zum Bau unverändert bestehen bleibt.
Zur Erinnerung: Schwankungen der Wassertemperatur, alarmierende Veränderung der Flussmorphologie, gravierende Verschlechterung der Wasserqualität wie auch die Abnahme des Habitatangebots gehören dazu - Gründe, weshalb die Technik in Deutschland z.B. überhaupt nur noch "mit einem unterhalb gelegenen  Ausgleichsbecken genehmigungsfähig" ist, da "Schwellbetrieb während der  Anstauphase das Unterwasser trocken fallen lässt und damit erhebliche ökologische Probleme hervorrufen kann". Hierzulande baut man stattdessen Ausleitungskraftwerke, Trinkwasserkraftwerke, Buchtenkraftwerke oder Laufwasserkraftwerke ohne Schwellbetrieb wie bspw. Strom-Bojen, Wasserkraftschnecken oder Schachtkraftwerke.
Wenn es den WKW-Betreibern und jenen, die es werden wollen, also ernst ist mit dem "Umweltschutz an erster Stelle", wenn sie nicht heucheln, warum halten sie dann an ihren Vorhaben in unveränderter Form fest?

Der río Convento, der Treffpunkt, Touristenmagnet und Trinkwasserquelle ist,
führt wie hier im Bild schon in der Trockenzeit häufig wenig Wasser...

... nicht selten nur noch Rinnsale.
"So werden beide Flüsse in Zukunft immer aussehen, wenn das Kraftwerk gebaut wird",
sagt Jiri Spendlingwimmer, Anthropologe und Wortführer der Komission zum Schutz der Flüsse.
"Beispiele aus anderen Regionen gibt es mehr als genug."

6. AUSNUTZEN

All die vorangegangenen Beispiele zeigen, Unwissenheit und Armut der betroffenen Bevölkerung sowie deren Interessen werden SCHAMLOS ausgenutzt. Im konkreten Fall von Longo Maï haben kaum Dorfbewohner mehr als nur die Grundschule beendet. Dies ist kein Einzelfall. Der Landwirtschaftssektor in Lateinamerika ist bedeutend größer als in Europa, Bildungschancen sind nicht selten stark einkommensabhängig. Das Gros der Bauern steht den Fremdunternehmern mit ihren geballten Fakten, tollen Prognosen und bedrohlichen Anwälten weitgehend hilflos gegenüber. Hier besteht der Unterschied zum Bau bspw. einer Wupper-Talsperre. Betroffene sind Viehzüchter, Kaffeepflücker, Erntehelfer - nicht Anwälte, Architekten und Lokalpolitiker etc., die dem Unternehmen auf die Finger schauen und mit ihrem Fachwissen bzw. Kontakten Einfluss nehmen können.
Bei den Alltagsstrapazen der Menschen, sind die Interessen der Investoren unverständlich und gedanklich weit weg. Die Projektschäden hingegen, die fallen ganz real an bis hin zu  Flutkatastrophen bei Dammbrüchen, die in Erdbebenzonen wie Zentralamerika akut zu erwarten sind. Die lokale Bevölkerung wird völlig übergangen - das fängt an damit, dass praktisch überhaupt nicht informiert wird.


7. INTRANSPARENZ

Wenn dann eine öffentliche Anhörung kommt, wird sie an Orten fern von den Betroffenen einberufen, erst kurze Zeit, bevor die ganzen Bewilligungen erteilt werden. Einsprachen müssen in der fernen Hauptstadt - man beachte die ökonomische Situation der Leidtragenden - in rechtlich anspruchsvoller Form mit beglaubigten Unterschriften etc. und in für in der Regel nicht digital vernetzte Bauern nicht leistbaren Eilfristen eingereicht werden.
Des Weiteren werden viele der gravierenden Auswirkungen selbst in den behördlich geforderten Umweltverträglichkeitsdokumenten nicht oder nicht mit der gebührenden Gewichtung erwähnt.
Die schließlich veröffentlichten Informationen werden wenn überhaupt sehr täuschend und in einem für Nichtspezialisten unverständlichen Fachchinesisch verabreicht. Nicht, dass dies in Europa anders wäre, doch versprechen die Bauherren zuvor doch klar: Der Bau der WKWs geschehe auf "legalem, demokratischem Wege unter Einbezug der Öffentlichkeit". Wieder einmal verliert der Selbstanspruch jeden Gültigkeitsbezug gemessen an der Realität. Die ansässige Bevölkerung wird vielstufig an einer demokratischen Einflussnahme gehindert und das alles - in der Tat - auf legalem Wege.

Das ist der Menschenschlag, gegen den sich die Aktivisten hier behaupten müssen, das sind die Methoden, gegen die sie bestehen müssen, ohne sich auf die gleiche Ebene zu begeben. Und wenn ich Aktivisten sage, dann meine ich unsere Freunde, unsere Bekannten, unsere Nachbarn. Wir sehen und spüren jeden Tag, wie die Menschen belogen und betrogen werden; wie sie kämpfen gegen ein Projekt, dass vor ihrer Haustür gebaut werden soll, dass ihren Fluss zerstört, in dem ihre Kinder baden, aus dem ihr Trinkwasser kommt; wie sie ohne Hilfe vom Staat oder von NGOs sich zusammenschließen und den Kampf tapfer aufnehmen, entgegen den unschönen Folgen, die es haben kann für ihre Karriere, Reputation oder Gesundheit; wie sie sich ohne professionelle Vorbildung akribisch in komplexe Thematiken einarbeiten, Dokumente, Prüfprotokolle revidieren, aufmerksam machen auf massive Missstände in Umweltstudien; wie sie die eigene Regierung aufrütteln, sich nicht von ausländischen Funktionären hinters Licht führen zu lassen und wie sie schlussendlich für all ihren Einsatz mit verfemt werden. Aktivistin oder Aktivist zu sein, das ist ein Schimpfwort geworden.

Ist die Regierung blind und taub oder sieht und hört sie bewusst weg?

Vielleicht ja ein bisschen von beidem. Für mich ist in jedem Fall klar, ich möchte meinen Freunden hier helfen in ihrem Kampf, auch wenn das schwierig ist im Rahmen eines Weltwärts-Programmes. Weltwärtsler dürfen nämlich nur in einem ganz engen Rahmen politisch tätig werden. Aber hier geht es für mich um Solidarität und umweltpolitische Verantwortung. Ferner sind die geplanten WKWs Montverde I und II keine Regierungsprojekte, im Gegensatz z.B. zu "el Diquís", dem weltberühmten Megaprojekt im Nachbarort Térraba. Organisatorisch werden wir also ohnehin mit anpacken und zum jetzigen Zeitpunkt liegt bereits die Anfrage einer österreichischen Zeitung vor, einen Artikel für September über die Entwicklung der Geschehnisse zu schreiben.

Auch in Europa möchte ich bei meiner Wiederkunft aufrütteln, über unsere energiepolitische Verantwortung nachzudenken. Beginnend mit der Frage "brauchen wir wirklich mehr Energie?", wie uns Wirtschaft und viele Medien permanent einreden. Diese Frage ist für mich zu einer ethischen Frage geworden. Sollten mehr als eine handvoll Menschen zu dem Schluss kommen, dass wir ohne Verlust von Lebensqualität hervorragend mit den bereits bestehenden Energiemengen (oder gar weniger?!) auskommen, wenn wir nur unsere maßlose Konsumwut und unseren Kriegsdurst überwinden, dann bräuchten wir über die Notwendigkeit von WKWs im geschützten Regenwald nicht mehr reden. Letzteres kann aber nur mit größter Disziplin umgesetzt werden - zu sehr haben wir uns an all den vermeindlichen Luxus unserer Überflussgesellschaft gewöhnt. Und die Auswirkungen unseres Lebensstils sind ebenso real wie unschön. Das erzeugt bei vielen Lateinamerikanern Wut auf die "gringos" und auf die Europäer oder bei einer Heerschar anderen - was eigentlich noch viel trauriger ist - Nachahmer. Das sind wir selber Schuld. Wann oder wo unternehmen Deutsche etwas gegen die Impertinenz und Schamlosigkeit ihrer Konzerne im Ausland? Wer von uns hat sich eingemischt (Petitionen unterschrieben, Diskussionen angeregt, Einfluss genommen) als es 2010 bzw. 2012 um ein Freihandelsabkommen mit lateinamerikansiche Ländern ging? Seit März 2013 wurden im Übrigen neue Verhandlungen zu einem Transatlantikabkommen aufgenommen, das rund EIN DRITTEL DES WELTHANDELS abdecken würde. Redet auch ein Drittel der Welt darüber? Aus Europa höre ich nichts!
Diese sogenannten "Strukturanpassungsprogramme" von Institutionen wie bspw. dem IWF oder der Weltbank verschärfen soziale und ökologische Konflikte eklatant, verbindliche menschenrechtliche Regelung oder Umweltstandarts fehlen weitgehend, unzähligen Menschen wird außerdem durch rücksichtslose Ausbeutung der landeseigenen Rohstoffe sowie Landraub oder Vergiftung der Gewässer ihre Lebensgrundlage entrissen.

Wer macht diese zerstörerische Politik möglich? Europäerinnen und Europäer sowie Nordamerikanerinnen und Nordamerikaner, die diese Institutionen mit ihren Steurgeldern finanzieren und bestenfalls stumm dulden, dass solche Politik gemacht wird.

Wie forderte Stéphane Hessel treffend: "Empört euch!" und knapp ein Jahr später fügte er ergänzend "Engagiert euch!" hinzu. Was mich betrifft, (wo wir gerade bei Zitaten sind) "Well, I'll do my very best."

Samstag, 11. Mai 2013

Gratis Saft und Seife

 
Wer den Blog verfolgt, weiss aus Flos letztem Eintrag, dass wir auf Reisen waren. Aber meine Fährte verliert sich dann in El Salvador mit seinen Worten 

Gleichzeitig ist es auch Paulas letzter Tag, ehe sie nach Mexico weiterfliegt.“  

Paula fliegt also nach Mexico. Verrûckt.
Die Familie meines mexicanischen Ex-Gastbruders Marco hatte mich zu sich nach Hause eingeladen und ich hatte begeistert zugesagt. Mexico ist ûberwältigend, schon der Anflug auf diese Monsterstadt hat mir den Atem genommen und die Mayapyramiden und Ruinen sind der pure Wahnsinn. Schaut euch meine Fotos an und lasst euch von Glanz und Farbe ûberzeugen.
Den Rûckweg von Mexico nach Costa Rica trat ich per Bus an, durchquerte Guatemala, Belize, Honduras und Nicaragua, machte hier und dort ein paar Tage Stopp, sah von allem ein kleines bisschen und sammelte flûchtige, aber auch bleibende Eindrûcke.
Es war eine wundervolle Zeit.
Hier werde ich mich jetzt auf eine von tausend erlebten Geschichten beschränken, die beeindruckendste, die definitiv nicht ansatzweise von Fotos erzählt werden kann.

Im Vorhinein eine Anmerkung: Jegliche Fragen oder Kommentare der Kathegorie „Paula, bist du völlig wahnsinnig?“ oder „Das wird noch ûbel enden mit dir.“ könnt ihr euch getrost sparen. Ich hab sie mir allesamt selbst schon durch den Kopf gehen lassen. Etwa so:

Paula, welcher Teufel hat dich schon wieder geritten? Glaubst du etwa, die Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes seien Produkte der Langeweile der Diplomaten und die Berichte von Kriminalität und Unsicherheit in Honduras nur lustige Geschichten? Kaum bist du allein unterwegs, forderst du das Glûck, das dir immer so treu beisteht, zum Duell heraus!
Okay, die Fahrt in Bus und Boot von Belize nach Guatemala waren ruhig und einfach (auch wenn du dich im Boot ruhig mal wie angewiesen nach hinten hättest setzen können, dann hättest du jetzt keine Rûckenschmerzen.). Aber musstest du dich dann unbedingt in den kleinsten, kaputtesten Zuckelbus zur Frontera setzen? Das war ja abzusehen, dass der auf halber Strecke schlappmacht, irgendwo im Nichts. Dass du nicht ausgeraubt und vergewaltigt wurdest, als irgendwann alle Frauen ausgestiegen waren und du allein mit 3 Männern durch die Dämmerung fuhrst...pures Glûck! Du hättest so eine zweistûndige Verspätung echt mit einplanen mûssen, dann wärst du nicht im Dunkeln an der Grenze Guatemala- Honduras angekommen, was dir jeder dringendst abgeraten hatte. Und wie kannst du so unverschämt dumm sein, nicht genug Quetzales (Guatemaltekisches Geld) zum Bezahlen der Ausreise-Steuern dabei zu haben? Du bist so gnadenlos naiv und irgendwie bleibt das Glûck ja auch immer an deiner Seite! Ausgerechnet den nettesten Migrationsbeamten der Welt zu treffen, der nicht nur die Hälfte des aus Belize-Dollern, Quetzales, Pesos und US-Dollern zusammengekratzten Geldes akzeptiert, sondern sich auch noch um deine Weiterreise sorgt! Denn natûrlich fahren zu der Zeit keine Busse mehr nach San Pedro Sula und sonst auch nirgens hin. Immer damit zu rechnen, dass die Leute ihre Connections fûr dich spielen lassen, das wird nochmal gewaltig schief gehen... stell dir vor, du hättest da an dieser gruseligen Grenze schlafen mûssen, allein, mit allen deinen Sachen. Aber nein, Paula-im-Glûck bekommt einen Namen, „Jack“, mit auf den Weg und wird zu einem gelben Bus geschickt, der eigentlich schon hätte abgefahren sein mûssen. 
„Frag, ob sie dich mitnehmen. Und renn!!“
Und gutgläubig wie eh und je hechtest du dann in diesen Bus, ohne dich vorher auch nur einmal zu fragen, was da so fûr Leute drin transportiert werden! Ich fass es nicht!

So, ya, genug davon, genug geschimpft. Jetzt fängt das Abenteuer an:

„Komm rein, komm rein!“, winkt mich eine Frau durch und ich setze mich in die letzte Reihe. Der Bus ist voller aufgedrehter Jugendlicher, die mich heimlich angaffen und pfeifen. „Son estudiantes?“, frage ich das Mädchen vor mir, immerhin steht auf dem Bus dick und fett Transporte de estudiantes, aber sie sieht mich mit einem Blick an, der alles und nichts sagt. „Nein. Wir sind Abgeschobene.“ Deportados, Moment mal, dieses Wort hatte ich doch schon unendlich oft im Spanisch-Unterricht gehört. Deportados..
„Wir wollten in die Staaten, aber sie haben uns erwischt.“, fährt sie fort. „Wir sind Hondurenos.“ „Seid ihr alle zusammen unterwegs?“ Da lacht sie: „Nein. Ich bin allein.“ Sie sei 14 Jahre alt, sagt sie auf meine erstaunte Nachfrage, und dort in den Staaten wäre ein Grossonkel von ihr oder so etwas. Mehr wisse sie nicht. Verwunderlich wär das nicht, immerhin leben momentan rund 1,6 Millionen Hondurenos in den USA, mehr als die Hälfte davon illegal.
Die beiden Jungs neben ihr haben sich zu mir umgedreht. „Wir sind sogar bis Mexico gekommen! Wir haben den Fluss ûberquert aber dann haben sie uns geschnappt. In einem Tag haben wir es von San Pedro durch ganz Guatemala bis zur Grenze von Mexico geschafft! Und dann waren wir dort drei Tage im Gefängnis.“
Wie weggetreten höre ich mir ihre Geschichten an, bis irgendwann Jack zu mir kommt, der eine Namensliste ûberprûft. Als ich ihm fûrs Mitnehmen danke und ihn nach einem Hostel in der Nähe frage, schlägt er vor, ich solle doch die Nacht in ihrem Auffanglager bleiben und er wûrde mir morgen frûh im Hellen zeigen, wie ich zum richtigen Bus käme. Ich ûberlege nicht lange. Die Geschichten sind superspannend, die Kids beeindrucken mich mit ihrer Offenheit und die Gelegenheit, einen Abschiebungsprozess so hautnah mitzuerleben, bekomme ich nie wieder.
Als wir nach stundenlanger ratternder Fahrt in San Pedro Sula einfahren, werden meine Mitfahrer immer aufgeregter- und ich wundere mich ûber die Grösse und Hässlichkeit der Stadt, die laut Jack die gefährlichste Stadt Honduras' ist. Die meisten der Jugendlichen sollen hier von ihren Angehörigen abgeholt werden, viele nach einer langen Zeit, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben. Ca. 15 Jungs sind von weiter weg und schlafen im Lager, das, wie Jack mir erklärt, staatlich finanziert wird. Jeden Montag und Donnerstag fährt er mit dem gelben Bus zur Grenze, ûbernimmt 30-40 Jugendliche, die in den USA, Mexico oder Guatemala aufgegriffen worden waren, oft weil sie kriminell aufgefallen waren, verteilt Tûten mit Klopapier, Saft, Zahnbûrsten- und pasta, Keksen und Seife, fährt sie nach San Pedro Sula, ûbergibt sie erst einem Doktor und dann einer Sozialarbeiterin (die Dame, die mich im Bus empfangen hatte), stellt ihnen fûr eine Nacht ein Bett zur Verfûgung und schärft ihnen ein, Honduras sei schön und es lohne sich nicht, zu emigrieren. Trotzdem tun es viele, wie ich hinterher erfahre, immer wieder, manche sind schon beim fûnften Mal.
Ein grosser, muskulöser Junge mit Kinderaugen erzählt, er sei ûber den Río Bravo gekommen und wurde auf der anderen Seite von der Migra mit Kanonen im Anschlag begrûsst. Daraufhin habe er drei Monate in den Staaten im Gefängnis verbracht, bis er in den Bus zurûck nach Honduras gesteckt wurde. „Jetzt bin ich wieder hier- pero al fin libre.“
Sie waren nett zu ihnen im Gefängnis. Es gab Essen und sie konnten Trommelkurse machen oder Bilder malen. Viele haben bunte Bilder dabei, als Andenken fûr die Familie. Para mi Mami heissen viele der herzenbedeckten Papierbögen, die diese gezeichneten jungen Menschen wie Schätze mit sich herumtragen. Fast alle, die ich frage, wûrden es in ein, zwei Monaten erneut probieren. Eine neverending-story.
Wie sie die Grenzen ûberqueren? Es seien ja, ausser bei der USA-Grenze, nicht ûberall Wachtposten, man schlage sich halt durchs Gebûsch. Warum sie nicht versuchen, einen Pass zu bekommen um legal zu passieren? Unsinn- Man bekommt keinen Pass, wenn man kein Land besitzt und kein Konto auf einer Bank nachweisen kann. Aussichtslos.
Ich komme mit zwei Brûdern ins Gespräch, die erzählen, ihr dritter Bruder sei schon seit zwei Jahren drûben, er habe einfach eine gringa geheiratet. Die beiden sind supernett und kûmmern sich rûhrend um mich, erinnern Jack daran, mir ein Bett zuzuweisen, sorgen dafûr, dass ich Essen bekomme, schenken mir Kekse und stehen am nächsten Tag um 4 Uhr auf, um mich zum Bus zu begleiten. Einfach so, ohne etwas dafûr zu erwarten. Ein Gefûhl sagt mir, dass mir bei ihnen nichts passieren wird, auch nicht, als wir noch im Dunkeln Jack verabschieden und durch die hässlichsten Viertel laufen, immer der Beschreibung nach. Meine Fûsse, seit Mexico barfuss, fangen an, weh zu tun, aber ich finde es viel zu aufregend, geschûtzt von dieser Gruppe Jungs, von denen nicht wenige selbst kriminell sind, durch die engen Gassen des riesigen, dunklen San Pedro Sula zu laufen. Als wir endlich beim Terminal ankommen, dämmert es grade, die Jungs fragen sich fûr mich zu meiner Bushaltestelle durch, wo wir feststellen mûssen, dass der Bus um 5:00 am, vor 10 Minuten gefahren war. Meine einzige Option: Mich in ein Hostel fahren zu lassen, wo ich ein Ticket fûr morgen kaufen kann.
„Wenigstens hast du dann gleich auch einen sicheren Ort zum Bleiben.“ stellt einer meiner neuen Freunde fest. Zum Abschied umarme ich sie, noch immer von ihrer rûhrenden Besorgtheit beeindruckt.

Das Taxi versetzt mich in eine andere Welt. Im Hostel kaufe ich mein Ticket und schlafe bis 11 Uhr. 

Sie haben mir ihre Namen nicht gesagt.