Dienstag, 23. Juli 2013

Abschied von Longo Mai: das Schiff legt ab

Ein dicker Käfer versucht vergeblich durch das Moskitonetz zu gelangen. Orientierungslos fliegt er im Raum herum und stößt mit einem dumpfen Aufprall mal gegen die Wand, mal gegen die Zimmerdecke. Dabei brummt er so laut, dass mein Trommelfell vibriert. Ich ziehe meine Decke hoch bis zum Kinn.
Dauerregen nach Hitzewallungen, herzliche Gastfreundschaft, falsches Lachen, leckeres Essen, viel, viel leckeres Essen, eine Verfolgungsjagt mit einem Pferd, Ignoranz, kühle Emotionen, heiße Emotionen, Drama, Verrat und Angriff, Klatsch und Tratsch, eine bundesdeutsch-österreichische Sprachdiskussion, frische Früchte im Überfluss und Kaffee in rauen Mengen - der Abschiedstag; er hat sie gehabt, die volle, aufreibende Ladung Longo Maï. Von allem, was symbolisch steht für dieses Dorf, in dem ich während meines Auslandsdienstes gelebt und gearbeitet habe, gab es einen kleinen, konzentrierten Ausschnitt wie in einem bunten Presentkorb zum Abschied mit auf den Weg. Manch ein Geschenk, dass uns Longo Maï machte, war lieblos und gefiel uns gar nicht. Gelächelt und bedankt haben wir uns natürlich trotzdem immer freundlich, das gebietet die Höflichkeit. Manch anderes war genau nach unserem Geschmack, nicht selten übertraf es jede Erwartung und bereicherte unsere großartige Zeit. Eines aber hatte jedes einzelne Erfahrungspaket, das dieser Projektort für uns bereit hielt, ohne Ausnahme inne - das immense Überraschungsmoment. Wenn wir uns nur in einem Punkt stets sicher sein konnten, dann, dass wir uns in nichts jemals sicher sein konnten. 

Der zerdellte Käfer hat vorerst aufgegeben. Ich starre zur Decke und überlege angestrengt, was ich am ersten Abend vorm Einschlafen gedacht, gefühlt habe. Zunächst einmal habe ich die ganzen Regenwaldgeräusche noch deutlich als etwas Besonderes wahrgenommen. Auch jetzt lärmen die Zikaden. Die Beschallung erfolgt kontinuierlich schwankend wie bei einem kleinen Kind, das den Lautstärkeregler an der Musikanlage gefunden hat und nun das Störgeräusch auf und ab dreht, auf und ab, auf und ab. In das Konzert mischen sich bizarre Vogel- und Froschgesänge. Ein Geselle erschrickt sich dauernd: "huuuuuach?" "huuuach?" "huuuuuuuuuuuach?". Ein anderer Gefährte keckert keck. Dabei wird er immer schneller und lauter. Und wer genau hinhört, kann einen dritten Knaben um Hilfe schreien hören. Wie jeden abend von der gleichen Uhrzeit an. Mir fällt es längst nicht mehr auf.
Ansonsten habe ich eigentlich sehr ähnliche Gedanken gehabt wir jetzt auch wieder. Damals konnte ich nicht fassen, dass dieses Jahr mir wirklich bevorsteht, nun, dass es schon wieder vorbei sein soll. Auch jetzt wieder freue ich mich auf das, was vor mir liegt und habe gleichzeitig ein flaues Gefühl im Magen, hinter mir zu lassen, was ich mir aufgebaut habe. 



Im Dauerlauf vergingen die Tage nach meinem Geburtstag. Ich habe jede noch so flüchtige Minute voll und ganz genossen, alle Eindrücke, Farben und Gerüche aufgesogen wie ein Schwamm. Meine Gastmama hat mich wie immer verlässlich gestützt darin, alle abschließenden Besorgungen und Besuche zu machen und ich unterstelle ihr, sie hat sich noch einmal gesondert ins Zeug gelegt, mich zudem mit meinen Lieblingsspeisen zu verwöhnen. Dabei haben wir immer voller Tatendrang nach vorne geschaut. Wir sind beide in der Hinsicht gleich, es bedarf keiner geschwollenen Worte oder traurigen Szenen, ein Blick genügt, eine kleine Geste und wir wissen, dass wir füreinander da sind und uns schon jetzt vermissen. Ähnlich erging es mir mit Dinia, Melvin, Lupe, Don Pedro, Doña Elena, Doña Edith und den vielen anderen lieben Menschen, die mir so sehr ans Herz gewachsen sind. Einzig bei Sulmas Familie sprudelt es über an Emotionen. Wir singen bei allen Treffen, Sulma bekocht mich festlich und überreicht mir Speis' und Trank mit Trauermiene, die Zwillinge malen mir jeden Tag neue ergreifende Abschiedsbriefchen - es fühlt sich ein wenig an, als hätte man eine tödliche medizinische Diagnose. Entgegen meinen hartherzigen Versuchen, steinern zu bleiben, übermannt mich der romantische Kitsch zunehmend und ich werde rührselig wie die Stars unserer gemeinsamen Lieblingstelenovela.

Zur Strafe mussten meine Nachhilfeschüler dran glauben: Ich habe sie streng auf eine Englischprüfung vorbereitet, die sie eine Woche vor meiner Ausreise dann ablegen mussten. Dann ließ ich sie bis zum letzten Tag zappeln, ehe sie mir beinahe vor Aufregung geplatzt wären. Erst zum Abschied überreichte ich ihnen nicht nur die Nachricht, dass sie alle bestanden hatten, was mich sehr stolz macht, sondern obendrein ein offizielles Zertifikat von Kolping und Vida Nueva. Ich konnte Roland sowie Kolping Costa Rica davon überzeugen, die Schirmherrschaft für die Unterrichtsstunden zu übernehmen, damit den Kindern und Jugendlichen ein offizieller Sprachkurs bescheinigt werden kann. Sie freuten sich sichtlich; wir alberten rum, hörten Musik und schossen unzählige Fotos. 
















Abgesehen von den Menschen in Longo Maï, unseren neuen Freunden in Zentralamerika und der Zirkusbagage, mit denen ich übrigens eine kleinen Abschiedsauftritt in der Hauptstadt hatte, ehe diese auf Europatournee gehen, werde ich auch viele meiner großartigen Mitfreiwilligen vermissen. Deutsche Knalltüten, verrückte Ösis und kauzige Schweizer, wie sie sich wohl nur in Longo Maï tummeln. Stunden voller gemeinsamer Kreativität, fesselnder Neugierde, geteilter Freude, raumfüllender Herzlichkeit sowie gegenseitigem Respekt und Vertrauen sind diejenigen Dinge, auf die ich besonders gerne zurückblicken werde. 

Und da wäre noch Simon: Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie ein Leben ohne ihn aussehen soll. Für ein Jahr lang haben wir - fast immer zusammen mit Paula - jeden Tag Zeit miteinander verbracht als Nachbarn, Projektpartner, Vertraute und Freunde. Wir haben gemeinsam den höchsten Berg Costa Ricas bestiegen, sind frierend durch den Dauerregen und die sengende Hitze Panamas gezogen, haben bei Nacht und Nebel den Regenwald durchforstet, Naturwunder erlebt, uns durch unsere ersten Tanzstunden gequält, tapfer in rauen Mengen Chicha und Rum unsere Kehlen herunter gespült, zusammen der Trockenheit El Salvadors getrotzt, haben uns in schweren Zeiten aufgemuntert und so viele Male zum Lachen und Staunen gebracht. Zurück in der Heimat werden uns zwischen Hamburg und Wien knapp 1000km voneinander trennen.







Nicht zuletzt also, um dieser wunderbaren, gewachsenen Freundschaft die gebührende Ehre zu erweisen, bauten Simon und ich ein symbolträchtiges Schiff zum Abschied. Paula wurde die Aufgabe zuteil, das Segel zu verzieren. Wir veranstalteten ein großes Fest und luden das ganze Dorf ein, sich von uns und mit uns zu verabschieden. Bei einem prallen Vollmond zündeten wir unser Schiff mit Fackeln an und schickten es auf die Reise in die Welt. Lange standen unsere Gäste an der Feuerstelle, bis der Mast unter Funkensprühen einsank und schließlich nur doch die lodernde Glut die Gesichter der Menschen blutrot Färbte. Es war das erste Mal, dass ich das Dorf andächtig und still versammelt erlebte. Wir wurden von allen Seiten gedrückt, geknutscht und umarmt, dann begannen die Mariachis zu spielen. Tanz und Gesang wurden nur für eine herzhafte Schüssel Arroz con Pollo oder einen Roncito (ein Schlückchen Rum) unterbrochen. 







Jetzt liege ich also hier in meinem Bett unter dem Moskitonetz mit dem einen kleinen mit Tesa zugeklebten Schlupfloch und sinniere. Was habe ich richtig, was habe ich falsch gemacht? Emotional bin ich noch zu keiner Bewertung im Stande. Aber was habe ich erlebt und welche Projekte habe ich umsetzen können? Das sind Fragen, die mir durch den Kopf schießen, deren Beantwortung mir leichter fällt. Meine Erlebnisse sehe ich in schillernden Farben vor mir. Die Erinnerungen an traumhaften Urlaube, Reisen und Ausflüge sind frisch und lebendig. In meinem Kopf kann ich sie abrufen, entlanggehen oder anhalten und vor meinem geistigen Auge betrachten. Jeder Gedanke daran zurück macht mich glücklich und zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht. Costa Rica ist, das möchte ich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich betonen, unabhängig von politischer oder sozialer Kritik, ein traumhafter Fleck auf der Erdkugel; vielleicht ist Costa Rica sogar das schönste Land der Welt. 



Ich habe mich verliebt in seine phänomenalen Landschaften, in denen kein Ort dem anderen gleicht, in dem Grün als Farbe ausreicht, um das bunteste Bild zu malen und in dem frische Früchte gleichermaßen wie seltene Tierarten niemals fehlen dürfen. Ich habe mich verliebt in seine Zeitrechnung, in der Stress ein Fremdwort ist und in der nichts wichtiger ist, kein Termin der Welt wichtiger sein kann, als die Familie, gutes Essen und das Leben selbst. Ich habe mich verliebt in die Landestraditionen, die mit spießiger Präzision, einem stolzerfüllten Herzen und der nötigen Prise Bescheidenheit jedes Jahr aufs neue zelebriert werden. Ich habe mich verliebt in seine Bewohnerinnen und Bewohner, die Fremden mit Neugierde, Unvoreingenommenheit und Offenheit begegnen, die GASTFREUNDSCHAFT groß schreiben, denen Teilen ein oberstes Prinzip ist, die in den blühendsten Ausführungen vom Pferd erzählen, ehe zuzugeben, dass sie keine Ahnung von etwas haben, und die mit ihrer unbezwingbaren guten Laune ansteckende Glückshormone bei jedem Menschen freisetzen, der sie zulässt.

Fleißig habe ich alles dokumentiert in meinem Reisetagebuch und Vieles auch auf meinem Blog. Ich möchte auch in einer von rosaroter Retro-Romantik weichgespülten Zukunft nachlesen können, wie ich gedacht, reflektiert und gehandelt habe. Andere Erfahrungen sind weniger für die Öffentlichkeit bestimmt, sie sind aber gleichermaßen präsent und ich werde sie nie vergessen, sie werden meine Zukunft mit prägen. Es geht dabei nicht um eine Erhöhung der Ereignisse, im Grunde ist es natürlich mit allen Erfahrungen im Leben so, aber im Zuge eines Freiwilligendienstes in einem zuvor völlig fremden Land, in einem zuvor völlig fremden Umfeld, das erste mal auf einem anderen Kontinent, werden manche Erlebnisse besonders intensiv und extrem erlebt. Vor allem an einem politisch, sozial, ökologisch und gesellschaftlich so komplexen und diversen Ort wie Longo Maï.

Auch die Frage nach dem, was ich gemacht habe, kann ich beantworten. Ich habe es Schwarz auf Weiß auf einem Weltwärts-Zertifikat, das mir die Kolping JGD ausgestellt haben. Auszugsweise lautet es dort:

Herr Vitello arbeitete im Rahmen seines Freiwilligendienstes mit der Kolpingfamilie "Camino de Amistad y Esperanza" sowie der Gruppe „Todas Unidas Para la Naturaleza" (TUNA) in Longo Maï, Costa Rica zusammen.
 Seine Aufgaben waren sehr vielseitig. Neben der täglichen Arbeit auf dem Feld mit Kaffee-, Zuckerrohr- und Gemüseernte, Zuckerrohr-Sähen oder dem Bestellen der Felder beziehungsweise Plantagen, unterrichtete er Erwachsenengruppen in Deutsch und Gruppen verschiedener Altersstufen in Englisch. Ferner gab er im Zuge einer Kooperation mit einem örtlichen Zirkusprojekt „Circo FantazzTico“, das ebenfalls von Kolping unterstützt wird, den jugendlichen Artistinnen und Artisten Italienischstunden, um sie auf eine bevorstehende Europatournee mit professionellen italienischen Clowns vorzubereiten.

 Gemeinsam mit seiner Projektpartnerin rief er außerdem eine Jugendgruppe ins Leben, die den jungen Menschen vor Ort Freizeitalternativen bieten, sie unabhängig ihrer Herkunft zusammenbringen und den jungen Menschen in Longo Maï ein Sprachrohr verschaffen sollte. Gemeinsam wurden Spenden gesammelt und ein Jugendzentrum in Form eines geräumigen Baumhauses gebaut. Schließlich konstituierte sich die Gruppe „SOMBRA“ selbstständig, formulierte eigenständige Ziele und verfolgte ihre Pläne ehrgeizig.

 Ebenfalls unterstützte Herr Vitello die Dorfgemeinschaft beim Tourismus und begleitete Touren als Übersetzer, arbeitete an der Website der Vereinigung und entwarf Postkarten für den Verkauf, deren Erlös einem gemeinnützigen Zweck zukam. 











Herr Vitello rief mit seinen Mitfreiwlligen das Recyclingprojekt der Dorfgemeinschaft wieder ins Leben und initiierte ein weitreichendes biologisches Observationsprojekt. Dafür holte er einen engagierten Biologen an den Projektort und leistete die Vernetzung zwischen der Universität San José, einer lokalen Umweltschutzorganisation, der UNAPROA, sowie den örtlichen Komitees und Gruppen. 

In diesem Rahmen realisierte Herr Vitello erste Seminare, Exkursionen und Vertiefungseinheiten mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die schließlich eine eigene Dynamik entwickelten. 

Das alljährlich stattfindende „Festival de las Artes y Culturas Longo Maï“   organisierte Herr Vitello als Teil des Festivalkomitees erfolgreich und tatkräftig in Form von Spendenakquise, der Bewerkstelligung rechtlicher Hürden, Vernetzungsarbeit, logistischen Aufgaben, der Motivation von Helferinnen und Helfern sowie dem Anwerben von  Künstlerinnen und Künstlern.

 Darüber war Herr Vitello beteiligt an der Gründung des vielschichtigen Ökologie-, Nachhaltigkeit- und Sozialprogrammes „Centro de Arte y Sostenibilidad Longo Maï“, einer Initiative der international bekannten Sängerin und Umweltaktivistin Guadalupe Urbina.
 Herr Vitello arbeitete schwerpunkttechnisch neben dem handwerklichen Bau des eigentlichen Zentrums an der Organisation des Freiwilligenprogramms sowie dem Aufbau einer tiefgreifenden Mentoringstruktur. Gemeinsam mit der kalifornischen Publisherin und Grafikdesignerin Verona Fonté erarbeitete und pflegte er zudem die Projekt-Homepage und übersetze Texte aus / in Deutsch, Spanisch und Englisch

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Wie nachhaltig das ist, was ich getan und initiiert habe, wird sich an der Zeit messen lassen müssen. Ich habe mich allerdings immer darum bemüht, lokale Partner in meine Projekte mit einzubinden und langfristige Ziele und Strukturen im Kopf gehabt, die auch ohne mich oder gar irgendeinen jungen Freiwilligen aus Europa eigenständig weiterlaufen. Vielleicht stimmt es, was wir zum Teil auf den Vorbereitungsseminaren lernen und was uns Weltwärts-Kritiker oft vorwerfen, dass wir eigennützig handeln, aus reinem Egoismus ins Ausland gehen und keine Hilfe vor Ort sind. Für mich persönlich muss ich das etwas relativieren. Ich habe mich nicht primär um einen Platz beworben, weil ich helfen wollte, sondern weil ich neugierig darauf war, völlig andere Kulturen kennenzulernen. Eigennützig war meine Bewerbung insofern, als dass ich mir eine solche Möglichkeit niemals ohne ein staatliches Förderprogramm hätte leisten können. Und tatsächlich, am Anfang habe ich unendlich viel persönlich gelernt, nicht zuletzt, weil sich die Menschen die Zeit nahmen, mir ihre Welt zu erklären und weil sie oft sehr geduldig mit mir waren. Allerdings fühlte ich mich mit jedem Tag wohler und sicherer in Land und Projekt und schon bald begann ich auf ganz eigene Initiative zu handeln. Geholfen hab ich dann doch, wenn eben jemand Hilfe brauchen konnte, so, wie ich es in Deutschland auch machen würde. Aber vor allem, habe ich mich an vielen Stellen gebraucht und willkommen gefühlt. Wenn ein staatliches Programm für Jugendliche so verläuft, dann entsteht ein Gewinn auf allen Seiten. Das war bei mir glücklicher Weise der Fall. Und dafür, dass ich diese Chance bekommen habe, bin ich unendlich dankbar.

Das reicht auch an Gedanken für einen Abend. Es wird nicht wirklich kühler, so wie normalerweise. Das bedeutet, sagt mir meine noch geschärfte meteorologische Bauernschläue, morgen wird ein heiß-schwüler Tag, vermutlich wird es gewittern und heftig regnen. „Gut so“, murmel ich mir in den Bart, bevor die Augen zufallen, „Dann wird der Abschied für Paula und mich morgen vielleicht wenigstens etwas leichter“.

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