Sonntag, 7. Oktober 2012

Odyssee durch San José

Paula und ich fuhren Anfang der Woche mit dem ersten Bus nach San José. Der Zirkus hatte am Nachmittag einen Auftritt. Gemeinsam mit Hanna und David wollten wir diese Gelegenheit nutzen, uns um unsere Visumangelegenheiten zu kuemmern. Erste Anlaufstelle war die Polizei. Es dauerte lange, in der prallen Hitze und mit dem Gepäck das andere Ende der Stadt zu erreichen. Dort angekommen, sahen wir eine endlos lange Schlange von Menschen, die Schlafsäcke, Decken sowie allerlei Hausrat dabei hatten. Wir schlugen uns zum Anfang vor, wo ein dutzend Polizisten Muehe hatte, die Ordnung aufrecht zu erhalten. Man sagte uns, wir seien nicht die einzigen, die ihre Fingerabdruecke zur Visumbeantragung abgeben wollten – alle Wartenden hätten das gleiche Ziel. Aber als Freiwillige sollten wir um 1.00 Uhr wiederkommen, dann kämen wir einige Stunden später an die Reihe. Die Zeit bis zum Eintreffen des Zirkus' verbrachten wir in der Hauptstadt. Als der kleine Bus ueber zehn Stunden später eintraf, waren wir heilfroh, endlich unsere Trekkingrucksäcke ablegen zu können.
Das Quartier des circo fantazztico wurde im deutschen Humboldt-Gymnasium San José aufgeschlagen. Es war ein komisches Gefuehl, inmitten dieser aus Dreck, Armut und Stacheldraht bestehenden Stadt, einen Ort zu betreten, der so reich und modern anmutete. Die Schule hatte ein eigenes Schwimmbad, einen Olympia-Sportplatz und eine grosse Buehne mit der modernsten Technik. Nach der Besichtigung wunderte es mich auch nicht mehr, dass das Gebäude von Sicherheitspersonal bewacht wurde. (Wie eigentlich jeder Ort in San José, an dem auch nur der geringste Geldbetrag zu klauen wäre. An unserem ersten Tag in Costa Rica kauften wir uns gemeinsam Handykarten; der Laden wurde von einem halben Dutzend Polizisten mit Maschinenpistolen gehuetet.) Ich kann meine Gefuehle an diesem Abend kaum in Worte fassen. Diese Mischung aus Muedigkeit, Hunger, Pessimismus bezueglich unseres Visums und den Eindruecken ueber die Schule. Ich kam als Freiwilliger, der bereits einen Monat in Costa Rica gelebt hatte und sich zu weiten Teilen angekommen gefuehlt hatte, in die Hauptstadt, in das Gymnasium. Ich schämte mich fuer den Reichtum, der nicht mir gehörte. Trotzdem, ob ich wollte oder nicht, fuehlte ich mich heimisch bei dem Lebensstandard, bei der Einrichtung, bei den Abläufen. Die Strassenkinder vom Zirkus fragten mich, ob es in Deutschland ueberall so aussehe. Ich verneinte die Frage, zumindest nicht in staatlichen Schulen – ein schwacher Trost fuer mein Gewissen. Aber stark und ungeschönt wurde mir bewusst, dass ich, so sehr ich mich auch eingewöhne oder wohlfuehle, letztendlich ein Fremder in diesem Land bin und bleiben werde. Dass die Menschen in Deutschland, auch wenn es ihnen oft nicht klar ist, deutlich mehr besitzen. Ich fand die ganze Situation unangenehm, zudem irgendwie pervers.
Viel Zeit zum Nachdenken blieb mir allerdings nicht, denn Paula und ich machten uns halbwegs gestärkt auf den Rueckweg zur Polizei. Mehr als zwei Stunden dauerte die Fahrt um diese Zeit. Sechs Busse und diverse zwielichtige Ecken von San José später, erreichten wir unser Ziel, an dem uns eine Gruppe von freundlichen, schwerbewaffneten Gesetzeshuetern in ruhigem Ton vermittelte, dass man sich bereits um 18.00 Uhr anstellen muesse. Dann truege man uns auf eine Liste mit 70 Plätzen / Tag ein und wer DANN rechtzeitig auf der Wache wäre, der DUERFE seine Fingerabdruecke hinterlassen. Uns war zum Schreien zumute. Wir sprachen mit einigen Einwanderern aus der Schlange, die uns erklärten, dass sie bereits seit drei Tagen auf der Liste stuenden und daher seitdem auf der Strasse schliefen.
Ich weiss nicht, ob es euch umständlich oder endlos vorkommt, diesen Blogeintrag zu lesen. Mir kommt es beim Schreiben so vor und glaubt mir das eine, es ist nicht ein Bruchteil der Umstände oder Endlosigkeit, die wir an diesem Tag verspuerten.
Bei der Polizei kamen wir keinen Schritt weiter, um diese Zeit fuhr kein Bus mehr – ohnehin unwichtig, schliesslich kamen wir in die Schule nicht mehr rein und die anderen schliefen alle. Also beschlossen wir, einfach zu warten. Bis zum Morgengrauen verbrachten wir in dem freundlichen Eckchen der Hauptstadt. Mit dem ersten Bus in der Frueh kehrten wir zum Zirkusquartier zurueck, holten weitere Unterlagen, drehten uns auf dem Absatz um und fuhren zur Migración. Schlappe 3 Warteschlangen, 6 Stunden und 10€ Fahrtkosten spaeter hatten wir einen Ordner bei der Einwanderungsbehörde Costa Ricas angelegt, der uns bestätigte, dass uns lediglich einige formale Dokumente (Ausdrucken, Unterschreiben), eine Ueberweisung in Höhe von 200$ sowie die Abgabe unserer Fingerabdruecke bei der Polizei fehlten.
Das bedeutet nun zusammengefasst, wir sind nur einen Haarspalt vom Visum entfernt, werden es aber nicht erhalten, da es utopisch ist, innerhalb der nächsten zehn Tage unsere Fingerabdruecke bei der Polizei abgeben zu koennen.
Nach 35 Stunden ohne Schlaf oder Essen, kehrten wir erneut zum Zirkus zurueck, der einen zweiten Auftritt in Cartago (nahe der Hauptstadt) hatte. Kurz vor der Präsentation sprachen uns zwei Freunde von Carolina an, ob wir nicht spontan mit ihnen Musik fuer die Zirkusnummern machen wollten. Man drueckte uns eine Geige und eine Gitarre in die Hand und ohne zu proben ging es spontan los. Wir hatten einen riesen Spass. Es wurde nicht nur lustig, sondern unsere Improvisationen passten auch toll zu den Kunststuecken. Eine willkommene Abwechslung fuer unsere Laune.
Völlig fertig wurde die Heimfahrt nach Pérez angetreten – dachten wir, denn aus unerfindlichen Gruenden, legte man noch eine mehrstuendige Pause im zentralen Park von San José ein. Warum nicht noch ein Interview geben? Studenten der Universität fragten uns auf Englisch aus. Sie hatten nur ein Ziel – raus aus Costa Rica, um nach Europa auszuwandern. Ein weiteres emotionales Erlebnis, dass ich zu Verarbeiten nicht mehr im Stande war. Die Heimreise zog sich wie Kaugummi in die Länge und es wurde ziemlich kalt in den Bergen. Endlich im Comedor angekommen, wollten wir nur noch essen und schlafen. Irgendetwas war kaputt, die Gasleitung, ich weiss es bis heute nicht und es war mir auch egal. Dann eben kein Essen. Tot fielen wir ins Bett.
Wir brauchten den Rest der Woche, um uns zu regenerieren. Jetzt haben wir einen Beschluss gefasst: Wir lassen uns nicht von den Behörden demuetigen! Die Auflagen von weltwärts, ein Jahresvisum beantragen zu muessen, mögen ihre Berechtigung haben. Wir sehen es aber nicht ein, drei Tage in einem nicht ungefährlichen Viertel von San José auf der Strasse zu schlafen. Dies ist ein Problem der costa-ricanischen Buerokratie. Es ist eine Schande mit anzusehen, wie viele Menschen bspw. Aus El Salvador oder Nicaragua diese Farce mitmachen, weil sie von einer besseren Existenz in Costa Rica träumen. Fuer eine organisatorische Auflage allein, werden wir das jedoch nicht in Kauf nehmen. Es reicht schliesslich völlig, wenn wir während unseres Aufenthaltes fuer kurze Zeit aus- und wieder einreisen, um unser Touristenvisum zu verlängern.
Unser Hauptaugenmerk liegt jetzt voll und ganz auf unseren Projekten. Vor allem das Jugendprojekt, das am Freitag gestartet ist, aber davon soll Paula euch bald mehr erzählen.



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